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MAGAZIN

21

·

Winter 2015

9

vor einigen Jahrzehnten. Wenn man sich

die Erde als ein einziges Land vorstellt,

nähern sich die Einkommensverhältnisse

einander an und driften nicht – wie so oft

behauptet–auseinander. Die Industrie­

länderorganisation OECD hat in einer

Studie analysiert, wie die früh entwickel-

ten Länder des Westens zwischen 1910

und 1970 zunächst einen großen Wohl-

standsvorsprung erzielten. Der Rest der

Welt bewegte sich dagegen mehrheitlich

am unteren Ende der Einkommensskala

– zur Mitte gehörten nur vergleichsweise

wenige Menschen. Einen Wendepunkt

verzeichnet die OECD um das Jahr 1980.

Durch das Aufholen der Schwellenlän-

der, allen voran Chinas, füllt sich das Tal

zwischen den beiden Gipfeln der Wohl-

standskurve seither kontinuierlich auf

und ist mittlerweile zu einem großen

Berg angewachsen.

Nichtsdestotrotz konstatiert etwa das bri-

tische Hilfswerk Oxfam eine „schockie-

rende Zunahme sozialer Ungleichheit“

–und viele andere Nichtregierungsor-

ganisationen pflichten dem bei. Öffent-

lichkeitsarbeit dieser Art zeigt durchaus

Wirkung, weshalb nicht etwa die Lücke

zwischen Arm und Reich wächst, sondern

vielmehr die Lücke zwischen Wahrneh-

mung und Realität. So hat IW-Ökonomin

Judith Niehues herausgefunden, dass

die Menschen in Europa die Ungleich-

heit in ihrer Gesellschaft systematisch

überschätzen. Die Verteilungsforscherin

hat die vermutete Schichtung der Gesell-

schaft mit der tatsächlichen Einkommens-

verteilung verglichen und herausgefun-

den, dass die Bürger aller europäischen

Staaten zu viele ihrer Landsleute in den

unteren Schichten verorten und die Größe

der Mittelschicht deutlich unterschätzen.

Der russische Ökonom Vladimir Gimpel-

son und der amerikanische Sozialwissen-

schaftler Daniel Treisman kommen in ei-

ner gemeinsamen Studie auch für andere

Kontinente zu diesem Ergebnis. Sie fan-

den zudem heraus, dass der Wunsch nach

Umverteilung eng mit der Wahrnehmung

der Ungleichheit zusammenhängt – die

tatsächliche Lage spielt dagegen kaum

eine Rolle. In sozialen Fragen und auch

sonst lohnt es sich also, von Zeit zu Zeit

zu überprüfen, ob das Bild im Kopf noch

zur Realität passt.

den beiden Weltkriegen fügt sich in die-

sen Trend, eben weil die zweite Hälfte im

Vergleich mit früheren Zeiten ausgespro-

chen friedlich verlief. Auch der Beginn

des 21. Jahrhunderts bildet keine Ausnah-

me. Wer die Nachrichten verfolgt, tut sich

vielleicht schwer, diese Zahlen mit seinen

Eindrücken in Einklang zu bringen. Die

Flüchtlinge des syrischen Bürgerkriegs,

die Gräueltaten des Islamischen Staats

und andere Gewaltausbrüche prägen die

Berichterstattung. Doch die Medien ver-

mitteln ein verzerrtes Bild. „Wir sehen

im Fernsehen zwar immer afrikanische

Teenager mit Kalaschnikows, aber wir re-

alisieren nicht, wie viele Kriege in Afrika

zu Ende gegangen sind“, sagte Pinker im

Interview mit der Süddeutschen Zeitung.

Spannungen entladen sich meist plötzlich

und erregen Aufsehen, das Gute entwi-

ckelt sich dagegen in kleinen Schritten

und entzieht sich deshalb der Aufmerk-

samkeit.

Zu den übersehenen Fortschritten gehört

auch die weltweite Einkommensentwick-

lung. Denn der Wohlstand verteilt sich

heute weitaus gleichmäßiger als noch

Quelle: Weltbank

Das Leben dauert immer länger

Entwicklung der Lebenserwartung

90

80

70

60

50

40

30

20

10

0

150

100

50

0

Anzahl der Länder

Lebenserwartung in Jahren

2013

1961

Sierra Leone

Nigeria

Indien

China

Indonesien

Thailand

Mexiko

Russland

Japan

Deutschland

USA

Niederlande

Sierra Leone

Nigeria

Indien

China

Indonesien

Thailand

Mexiko

Russland

Japan

Deutschland

USA

Niederlande